Sechs Schwestern und drei Brüder – wenn Anna Jurt von ihrer sportlichen Familie erzählt, wird schnell klar, dass sie es mag, wenn viel los ist. Aufgewachsen in Beckenried NW lebt sie mittlerweile in einer WG in Bern und besucht das letzte Semester des Feusi-Sportgymnasiums.
Die 21-Jährige sucht seit jeher die Abwechslung, da es ihr schnell langweilig wird. Von Fussball über Ballett bis Karate hat sie alles Mögliche ausprobiert. Als Kind bekam sie von ihrer Mutter ein Pony geschenkt. Das Reiten wurde zur ersten Sportart, der sie bis heute treu blieb. Schnell war aber klar, dass Anna sich nicht mit einer Sportart zufrieden gibt. So startete sie ihre Karriere im Alter von 12 Jahren im Vierkampf (Dressurreiten, Springreiten, Schwimmen und Laufen) und wechselte rund drei Jahre später zum Modernen Fünfkampf. Dieser setzt sich zusammen aus Reiten, Fechten, Schwimmen, Laufen und Schiessen.
Während es in anderen Sportarten selbstverständlich ist, dass man mit anderen Athletinnen in derselben Disziplin trainiert, ist Anna eine Art Nomadin. Sie trainiert jede Sport- art mit Profis im jeweiligen Gebiet. So eignet sie sich in jeder Disziplin spezifisches Know-how an und kann von sehr vie- len Sportlerinnen und Sportlern aus unterschiedlichsten Be- reichen lernen und profitieren.
Die Pentathlon-Wettkämpfe finden alle drei bis vier Wochen statt. Dazwischen nutzt Anna die Zeit und tritt auch in den Einzeldisziplinen an. Im Laser-Run – ihrer Paradedisziplin – holte sie 2021 an der WM in Kairo den Titel bei den Ju- niorinnen. Im Schwimmen hingegen gibt es noch Luft nach oben. Auf die Frage, ob man in dieser polysportiven Sportart auf die Stärken baut oder an den Schwächen arbeitet, meint Anna: «Während der wettkampffreien Zeit investiere ich viel in das Schwimmtraining, um die Basics zu optimieren. Sobald die Wettkampfsaison startet, wechselt der Fokus aufs Laufen, weil ich dort kurzfristig am meisten aus mir heraus- holen kann.»
Früher dauerten die Pentathlon-Wettkämpfe mehrere Tage, neu werden alle Disziplinen innerhalb von 90 Minuten ab- solviert – das kommt der Wettkämpferin Jurt entgegen, da sie eine sehr kurze Regenerationszeit benötigt und ihr der Wechsel der Disziplinen in kurzer Zeit liegt. Dass die U- 19-Europameisterin diese Strapazen wegsteckt, verdankt sie ihrem Körpergefühl. Sie weiss genau, wie viel sie ihrem Kör- per zumuten kann und wann sie eine Pause braucht. So ist es ihr bisher gelungen, auch dank genügend Schlaf und regel- mässigen Massagen verletzungsfrei zu bleiben.
Anna ist innerhalb der Familie ein Vorbild. Zwei ihrer Ge- schwister, die mittlerweile auch Modernen Fünfkampf aus- üben, besuchen wie sie die Feusi-Sportschulen. Geografie und Sprachen gehören zu Annas Lieblingsfächern, die sie dank internationalen Wettkämpfen regelmässig im Sportlerin- Leben anwenden kann. An ihrer Klasse gefällt ihr besonders der Teamspirit: «Da wir alle Spitzensport betreiben, fehlen wir regelmässig wegen Trainings und Wettkämpfen. Wir unterstützen uns dann gegenseitig, wenn es darum geht, den verpassten Stoff nachzuholen.»
Pro Tag absolviert sie meist neben der Schule zwei bis drei Trainings, die insgesamt bis zu 22 Stunden pro Woche in Anspruch nehmen. Corinne Schmidhauser, Leiterin der Feu- si-Sportschulen, sagt zu Annas Situation: «Sie ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir als Sportschulen maximale Flexibili- tät suchen. So haben wir es ermöglicht, dass Anna bereits während der Maturaprüfungen mit der Spitzensport-RS star-
ten kann.» Mit dem Start der Spitzensport-RS der Schweizer Armee wird Anna zum ersten Mal in ihrer Karriere für die Ausübung ihres Sports entlohnt werden.
Bisher liess sich die Ausübung ihres Sports vor allem dank der Unterstützung der Sporthilfe, des Nidwaldner Sport- Fonds und von Pentathlon Suisse finanzieren. In der RS wird sie während rund 18 Wochen in Magglingen unter optimalen Bedingungen und erstmals auch mit anderen Pentathletinnen im Team trainieren können. Dazu gehört ihre Sparring- partnerin und Top-Pentathletin Lea Egloff, die bei Feusi die Berufsmatur Sport absolviert. Anna will diese Voraus- setzungen konsequent nutzen, um sich zu verbessern. Dass manchmal wenig fehlt, musste sie schmerzlich erfahren, als sie sehr knapp die Qualifikation für Olympia 2021 verpasste. Anna bezeichnet sich aber als Stehaufmännchen: «Genau sol- che Tiefschläge sind es, die einen am Ende weiterbringen und mich als Gesamtpaket ausmachen», sagt sie entschlossen. Und es bleibt kein Zweifel, dass sie noch eine Rechnung mit den Olympischen Spielen offen hat. Für den grossen Traum alles auf die Karte Sport setzen? Das kann sich Anna aktuell noch nicht vorstellen, da sie die Kopfarbeit braucht und mit einem Bein im «zivilen» Leben stehen will.
Es ist verblüffend, wenn Anna erklärt, dass sie nicht «nur» die Pentathlon-Disziplinen trainiert. Sie hat stets den Drang, sich auch in anderen Sportarten zu versuchen und sich selbst weiterzuentwickeln. Genau das könnte ihr grosses Plus sein. Unvergessen sind die Szenen an Olympia 2021 in Tokio, als die deutsche Fünfkämpferin und Medaillenanwärterin Annika Schleu weinend auf dem Pferd sass, welches ver- weigerte. Der Vorfall hat zur Folge, dass sich die Union de Pentathlon Moderne (UIPM) entschieden hat, Springreiten aus dem Reglement zu streichen und durch Hindernislaufen als neue Disziplin zu ersetzen. Bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris wird das Reiten zum letzten Mal auf dem Pro- gramm stehen. Wie geht Anna mit dieser Unsicherheit um, bald eine neue Sportart trainieren zu müssen? «Ich bin ein Mensch, der es nimmt, wie es kommt, aber natürlich bedaure ich den Entscheid. Aber in erster Priorität gilt nun voller Fokus auf Paris 2024. Es ist mein grosses Ziel, dort an den Start zu gehen.»
Dass dieses Ziel für die mehrfache Schweizer Meisterin der nächste logische Schritt ist, zeigt ihr 13. Rang am Weltcup in Budapest im letzten Jahr. Nationalcoach Florence Dinichert traut ihr einiges zu: «Anna ist eine sehr fokussierte Athletin, die ihren Zielen viel unterordnet. Wenn sie so weiter trainiert und verletzungsfrei bleibt, wird sie es in den eigenen Händen haben, bei den nächsten Olympischen Spielen am Start zu stehen.»